Aus der Familie des Baurats
Franz Wilmanns
in Berlin
1799 - 1885
Aufzeichnungen seiner Töchter
Elisabeth und Karoline
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Karoline und Elisabeth Wilmanns
Zusammengestellt 1950
Die Zusammenstellung erfolgte
durch den vereideten Landmesser
Karl Michael in Kölleda bei Eckartsberga.
Zu dieser Seite.
Nachdem ich diese Seite von H J Schmid im August 2002 erhielt, habe
ich zu den einzelnen Personen Fotos hinzugefügt. Um die Lesbarkeit
des Dokuments nicht zu verschlechtern, ist die jeweilige Person beim ersten
Erscheinen fett hervorgerufen und das entsprechende Bild öffnet sich
dann durch Anklicken in einem eigenen Fenster.
Peter Wilmanns, im September 2002
Vorbemerkung.
An die nachfolgenden Aufzeichnungen bin ich auf verschlungenen Wegen
gelangt. K. Michael, hat sich für die Herausgabe dieser Aufzeichnungen
an den Bürgermeister der Stadt Erwitte gewandt, um Informationen zur
Familie Kreilman (nicht Kreilmann!) zu gewinnen. Der Bürgermeister
hat ihn an den Polizeipräsidenten Dr. Arthur Drews (1884 - 1964) verwiesen,
der mit Dorothea Kreilmann (1904 - 1964) verheiratet war. Da Drews selber
familiengeschichtliche Untersuchungen betrieben hat, konnte er weiter helfen.
Sein Sohn, Dieter Drews-Kreilman, hat diese Unterlagen übernommen
und weiter geführt. Mit ihm kam ich bei der Suche nach Spuren zur
Familie Kreilman durch Zufall in Verbindung. Er hat mir bereitwillig weiter
geholfen, insbesondere hat er mir viele Unterlagen zukommen lassen, die
mein Archiv bereichern. Darunter auch die folgenden Aufzeichnungen. Michael
lebte in der Ostzone und hatte Probleme, Papier für sein Unternehmen
zu bekommen. So sind dann seine Zusammenstellungen mit der Schreibmaschine
auf dünnes, fast durchsichtiges Papier mit mehrfachen Durchschlägen
getippt worden, ein Exemplar hat er dann Arthur Drews geschenkt.
Ich habe die Anmerkungen Michaels etwas erweitert, sie sind durch eckige
Klammern gekennzeichnet. Das Bild des Hauses Kreilman in Erwitte und die
Landkarte vom Stimmstamm hat K. Michael angefertigt, das Foto stammt von
Peter Wilmanns. Den Stammbaum der Familie Kreilman und die Liste der Wilmanns-Kinder
habe ich nicht übernommen. Dazu ist genug bekannt.
H J Schmid, im August 2002
Zur Einführung.
Im Jahre 1929 zeichnete Karoline von Oettingen, geb. Wilmanns, damals
71 Jahre alt, Erinnerungen an ihr Elternhaus auf. Ihr Vater war der Baurat
Franz Wilmanns, ihre Mutter hieß Josephine, geb. Eickenbusch. Karoline,
gerufen Lina, war die jüngste der fünfzehn Kinder ihrer Eltern.
Die freundschaftlichen Beziehungen, die die Geschwister später unter
einander pflegten, verdienen besondere Beachtung.
Beide Eltern stammen aus Westfalen. Dort wohnten sie die ersten Jahre
ihrer Ehe in Lippstadt, später zogen sie nach Jüterbog und endlich
nach Berlin. Berlin ist ihnen mit seinem geistigen und gesellschaftlichen
Leben zur zweiten Heimat geworden.
Die Aufzeichnungen Karolinens wurden sehr bald in einigen Abschriften
innerhalb der Familie Wilmanns verbreitet. Eine Abschrift erhielt auch
ihre drei Jahre ältere Schwester Elisabeth Caspar, geb. Wilmanns in
Magdeburg. Elisabeth Caspar benutzte die Abschrift, um im Text selbst und
am Rande zahlreiche Ergänzungen anzubringen. Außerdem fügte
sie den Aufzeichnungen ihrer Schwester einen gesonderten Bericht von sechs
dicht beschriebenen Seiten zur Vervollständigung hinzu. Diese Zusätze
Elisabeths bereichern die Erinnerungen erheblich, sodaß der Gedanke
nahe lag, beide Quellen mit einander zu verbinden und als Ganzes darzubieten.
Ein Grund äußerer Art kam hinzu. Elisabeth Caspar schrieb im
hohen Alter gern mit einem sehr weichen Blei. Ihre Schrift war zart, zierlich
und eng und droht jetzt zu verwischen. Es war daher geboten, sie bald zu
übertragen.
Satzbau und Stil beider Schwestern, sowie die Reihenfolge des Erzählten
sind auf ausdrücklichen Wunsch hin unverändert geblieben. Dies
schloß nicht aus, daß an einigen wenigen Stellen kleinere störende
Unebenheiten vorsichtig geglättet wurden. Die Zusätze der Schwester
Elisabeth als solche überall kenntlich zu machen, war indes nicht
möglich, da die Lesbarkeit des Ganzen dadurch zu stark beeinträchtigt
worden wäre. Wo es möglich war, ist es geschehen. Als Rechtschreibung
wurde die heutige gewählt. Vereinzelt wurden auch neue Abschnitte
gebildet. Die Ergänzungen des Bearbeiters sind durch doppelte Klammern
kenntlich gemacht worden.
Den Anstoß zu dieser Arbeit gab die Silberne Hochzeit des jüngsten
Sohnes der Schwester Elisabeth, des Pfarrers Siegfried Caspar in Volkersheim
am Harz, der die Aufzeichnungen seiner Mutter dem Bearbeiter zur Verfügung
stellte. Der Bearbeiter selbst ist mit der Familie nicht verwandt. Die
große Freundschaft, die das Haus Caspar ihm allezeit erwiesen hat,
hat ihn zu dieser Arbeit veranlaßt.
Möge der Segen, lieber Siegfried, mit dem Gott Dein Elternhaus
gesegnet hat, auch jeden berühren, in dessen Hände diese Blätter
geraten.
Kölleda, im August 1950
Dein Karl
Mein Vater war am 6. November 1799 in Halle in Westfalen geboren. Sein Vater war Jurist und Oberamtmann (was jetzt Landrat ist). Er muß ein heftiger Mann gewesen sein mit starken Grundsätzen, fest und treu patriotisch. Ich denke ihn mir ungefähr so, wie Otto Ludwig [1] den alten Erbförster schildert. Er regierte seinen Kreis in der schweren Zeit vor und nach 1813 mit großer Strenge und Gerechtigkeit, war aber durchaus beliebt. Als Jerôme zu Ehren ein Festessen gegeben wurde - als König von Westfalen; er selbst war nicht zugegen, aber ein Toast wurde auf ihn ausgebracht - da leerte Großvater sein Glas nach den Worten: Mein König von Preußen! Niemals Jerôme! Darauf kam er in das Gefängnis. Die arme Frau mit sieben oder acht Kindern wurde von verschiedenen Familien aufgenommen, denn Großvaters ganzer Besitz wurde beschlagnahmt, nur ein kleines Stück Garten blieb frei, da die Grenze von Preußen und Westfalen im Garten selbst lag. Aber mein Vater erzählte, sie hätten es alle sehr gut gehabt, sie wären sehr verwöhnt worden. Und, als mein Großvater frei wurde, trugen ihn die Leute auf den Schultern durch die Stadt, und groß sei der Jubel gewesen, als er als erstes vom Speicher den Schild mit dem preußischen Adler geholt habe, den er dort mit dem Gesicht nach der Wand versteckt hatte, und ihn wieder an dem Haus befestigt habe. Speicher und Scheune hatten ihm die Leute aufs beste gefüllt, und groß mag die Freude gewesen sein.Einige Erinnerungen an mein Elternhaus
und was ich von meinen Großeltern hörte.
Von Lina von Oettingen, geb. Wilmanns
Burg Reichenberg bei St. Goarshausen am Rhein,
im Februar 1929
![]() (Zeichnung von K. Michael) |
Ihre schönste Erinnerung waren die alljährlichen Besuche bei
den Großeltern Eickenbusch, einem Bauerngut, daher wohl der Name
Eichen- Eickenbusch. Die Großmutter empfing sie mit neuem derben
Kleid und Schuhen. Darin durfte sie toben, soviel sie wollte. Dorthin kamen
auch der Großvater und die Geschwister. Von diesen stand uns Tante
Lina
sehr nah. ((Gemeint ist Karoline
Eickenbusch , geboren in Rüthen am 13. 3. 1814, gestorben am 10.
3. 1888, wo, ist nicht gesagt, aber wohl in Mühlheim an der Möhne)).
Sie war viel bei uns in Berlin zu Besuch. Sie hatte eine sehr böse
Flechte im Gesicht und ging auf der Straße nur mit einem dichten,
schwarzen, langen Schleier. Wir Kinder saßen gern bei ihr und lauschten
ihren schönen Geschichten, die sie mit einer sanften schönklingenden
Stimme im westfälischen Dialekt erzählte. Dabei strickte sie
stets, sie war die Stricktante. Jeden Weihnachten kam eine große
Bettspreite [4] und sechs Paar baumwollne Strümpfe, und so lange wir
klein waren, langgestrickte Nachtkittel, die wir sehr liebten. Wir steckten
darin wie in einer Wursthaut.
Die Schwester Elisabeth ergänzt an dieser Stelle:
Sie
lebte in Mühlheim an der Möhne zusammen mit einer verwitweten
Schwester Julie (der verstorbene Mann war Lehrer und hieß Vetter)
und deren fünf Kindern. Auch diese starb früh. Da richtete sie
einen kleinen Laden ein und erzog die Kinder zu tüchtigen Menschen
(4 Mädchen) fürs Lehramt. Ein Sohn starb früh. Der Pastor
und sein Vikar lebten in ihrem Hause und hielten treu zu ihr. Gelegentlich
der Reise zu ihr nach unserem Lehrerinnen-Examen haben wir dort sehr lustige
Wochen verlebt, kleine Aufführungen gemacht mit den sehr streng katholischen
Cousinen zusammen.
Dem jüngsten Stiefbruder, Justizrat Heiner
Eickenbusch
in Hamm und seine ganze Familie, liebten wir sehr, waren
auch - fügt Elisabeth hinzu - nach
unserem Examen vier Wochen in seinem wohlhabenden Hause. Seine damals noch
ganz jungen Söhne waren in unserem Alter, Heiner, später Senatspräsident
am Oberlandesgericht in Hamm, und Karl, Mediziner, der leider sehr jung
an einer Blutvergiftung starb, die er sich bei einer Operation zugezogen
hatte. Maria war etliche Jahre jünger. Sie war später sehr unglücklich
verheiratet mit dem Ersten Staatsanwalt Schulte, nachher mit dem Vizepräsidenten
Dröge.
Das Haus unserer Großeltern in Rüthen lernten Lisbeth und
ich nach ihrem Tode kennen. Es war ein Teil eines alten Klosters mit langen
gewölbten Kreuzgängen. Da man noch keine elektrische Beleuchtung
hatte, war es etwas gruselig. Lisbeth und ich waren, nachdem wir das Lehrerinnen-Examen
gemacht hatten, dort. Unser Zimmer lag hinter einem großen Saal,
zu dem solch ein Kreuzgang führte. Einen Abend waren wir bei unserem
Onkel, dem Gerichtsrat Berghof, der den anderen Teil des Klosters mit dem
Gericht bewohnte, sehr vergnügt gewesen und hatten auch von Gespenstern
und Tischrücken gesprochen. Kaum lagen wir im Bett, so sah meine Schwester
glühende Augen an ihrem Fußende. Sie rief mich, ich sah sie
auch. Wir graulten uns fruchtbar. Endlich faßte ich Mut, zündete
eine Kerze an, und sieh da, eine schwarz-weiße Katze saß da.
Der Garten hatte den langen Kreuzgang mit den Stationen zwischen mannshohen
Buxbaumhecken, und wie hier mancher Gebetsseufzer gehört sein mag,
so mag an dem großen Steintisch am anderen Ende des Gartens so mancher
Humpen geleert worden sein. Am Eingang des Gartens standen riesige Hortensien
mit 72 und 75 Blütendolden. Wir kamen 1876 dorthin, 1869 war Großvater
gestorben mit 92 Jahren und noch lebte er in der Erinnerung unter den Leuten.
Uns fuhr ein greiser Postillon den Berg, den Stimmstamm [5], hinauf.
![]() Erwitte und Umgebung (K. Michael) |
Als er hörte, daß wir Enkeltöchter von dem alten Dr.
Eickenbusch wären, bot er uns liebevoll seine Schnapsflasche an. Elisabeth
ergänzt hier: Er erzählte uns, daß
unser Großvater oft an arme Kranke dies und das verschenkt habe.
Dreimal habe er aus Gutherzigkeit ohne Wissen seiner Frau die Kinderwäsche
an arme Wöchnerinnen verteilt. Mit 90 Jahren habe er noch, fest aufs
Pferd geschnallt, in Begleitung eines Knechtes Krankenbesuche gemacht.
Einst war der König mit gebrochenem Fuß für einige Stunden
zu ihm gebracht worden. Die Liebe zu und von den Verwandten meiner Mutter
war sehr groß. Aber einmal sagten sie doch: "Trotz unserer so sehr
großen Liebe zu Euch und Euren Eltern hätten wir Euch noch viel
lieber, wenn Ihr katholisch wäret!"
Meine Eltern lernten sich in Erwitte kennen und lieben und verheirateten
sich nach Lippstadt, ((wo sie die ersten Jahre der Ehe wohnten. In Lippstadt
war die Kreisverwaltung, und der junge Kreisbaumeister wird bei Chausseebauarbeiten
in Erwitte seine Braut kennengelernt haben. Chausseebauarbeiten waren auch
der Anlaß, daß er später nach Jüterbog versetzt wurde.))
Meine Mutter, 19 jährig, war noch ganz unbewandert in den Hausfrauentugenden.
(Hier setzte Elisabeth ein Fragezeichen dahinter). Die ersten Kochkünste
lernte sie von dem sehr verwachsenen Pferdeknecht mit triefender Nase!
Er backte einmal einen Eierkuchen, wendete ihn durch Hochwerfen und da
saß der Eierkuchen auf seinem verwachsenen Rücken fest. Mein
Vater hatte als Bauinspektor ein Pferd, das Dienstmädchen war jung
und verstand noch wenig. Die gute Tante Lina, die einige Jahre bei ihnen
lebte und bei der auch die ersten Kinder geboren wurden, mag wohl manches
Mal geholfen haben. Von Lippstadt aus wurde mein Vater im Dezember 1835
nach Jüterbog versetzt. Sie machten den Umzug mit eigenem Wagen und
Pferden und mit sechs kleinen Kindern. Am Heiligen Abend kamen sie in Jüterbog
an. Es muß eine schwere Reise gewesen sein, aber meine Mutter sagte,
die Posthalterinnen seien rührend gewesen, hätten ihr überall
die Staatszimmer gegeben und sie und die Kleinen gewärmt. Fünf
Tage hat, glaube ich, die Reise gewährt.
In Jüterbog verlebten die Eltern zwölf glückliche Jahre.
Die Familie des Hauswirts Hönemann, eine Kolonialwarenhandlung, befreundete
sich innigst mit den älteren Kindern. Die Kinder waren tüchtig,
wurden später Landgerichtsrat, Arzt, Prof. der Philosophie usw. und
meine Geschwister hielten Freundschaft mit ihnen bis an ihr Lebensende,
während sie als Kinder wohl Zucker, Rosinen und Mandelkern im Laden
geschleckt hatten, ja, mein Bruder Gustav
im Samtanzug bei dem Schlecken mal in ein Syrupfaß gefallen war.
Die Eltern schlossen sehr treue Freundschaft bis an ihr Lebensende
mit dem Leutnant von Rheinsbaben, später Landrat im Kreise Krossen
an der Oder und Erbe des Gutes Fritschendorf bei Krossen. Sie hatten sieben,
später militärische Söhne und zwei Töchter. Gleicher
Kindersegen und gleiche Sorgen vereinigte die Frauen, gleicher Patriotismus
die Männer. Sie verlebten 1848 zusammen, sieben vergnügte Taufen
feierten die Eltern dort und wohl noch manche anderen frohen Feste, die
mein Vater sehr geliebt haben soll.
Elisabeth fügt hinzu: Die sieben Söhne
waren alle 1870 im französischen Kriege, kehrten, zu hohen Ehren gekommen,
mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse heim und waren am Einzugstage mit ihrem
Onkel, dem Kommandierenden General von Rheinsbaben, alle bei uns im bekränzten
Hause zu gast.
Im Jahre 1851 oder 52 wurde meine Vater nach Berlin in das Ministerium
berufen. Er hatte unter Schinkel gearbeitet und vorzügliche Examenszeugnisse.
Da traf meinen Vater ein furchtbarer Schlag.
Er hatte im Dorfe Zinna [6] eine Kirche im Bau, während er an
einem schweren Gelenkrheumatismus darniederlag. In seinem übergroßen
Pflichteifer ließ er sich in einem Planwagen im Bett herausfahren,
und das soll die Veranlassung gewesen sein, daß er sein Gehör
vollkommen verlor. Kein Arzt konnte helfen, und dieser lebensfrohe Mann,
der zärtliche Vater, war ganz auf sich angewiesen. Meine liebe Mutter
verstand er ein klein wenig, aber persönlicher Verkehr war unmöglich.
In Berlin baute er anfangs noch an der Bauakademie und an der Post in der
Oranienburger Straße, wo er sein Bureau hatte. Aber bald sah man
ein, daß ein Verkehr mit vielen Arbeitskräften nicht möglich
war, und unser guter Vater mußte sich mit Chausseebauten begnügen.
Unbegreiflich ist es mir, wie mein Vater so zufrieden blieb. Er mußte
amtlich jeden Wunsch, jeden Auftrag schriftlich machen. Um die Arbeit zu
bewältigen, stand er morgens um 1/2 4 oder 4 Uhr auf und arbeitete
bis 7 Uhr abends. Bei Tage hatte er viele Fahrten zu machen, zuweilen nahm
er auch die Mutter und uns, die beiden Kleinen, mit. Aber er, der ein so
zärtlicher Vater und Gatte war, er sah nur - und hörte nichts.
Vier Kinder wurden noch geboren, von den 15 waren drei früh gestorben.
Fritz 7jährig an einem Rückenmarksleiden infolge Masern, Auguste
1 1/2jährig am Stickhusten, Johanna 3/4jährig an der Bräune.
So hatte meine Mutter sechs Söhne und sechs Töchter zu erziehen.
Waren besonders große Sorgen, so teilte man sie meinem Vater wohl
mit. Die Schulzeugnisse beurteilte er bei den Brüdern mit großer
Strenge, auch leitete er die Berufswahl, aber die zarten, innerlichen Verbindungen
fehlten doch infolge seines mangelnden Gehörs und seiner angestrengten
Arbeit. Die größte zärtliche Liebe erzeigte er uns beiden
Mädchen, die wir die jüngsten waren. Für sich gab der Vater
nie Geld aus, nie zu seinem eigenen Vergnügen. Bei den sehr knappen
äußeren Mitteln ging alles ureinfach zu, nur möglichst
viel mußte gelernt werden. Meine Mutter hielt uns schon früh
an, zum neuen Jahr und zu Vaters Geburtstagen recht inhaltsvolle Briefe
zu schreiben oder Gedichte zu machen, und ein dicker Packen solcher Schriftstücke
lag in Vaters Schreibtisch, Griechisch, Latein, Englisch, Französisch
und am meisten natürlich Deutsch. Wir liebten unseren guten Vater
sehr, aber wir kannten nur seine zärtliche Liebe und sein strenges
Mitgefühl.
Die älteren
Geschwister waren schon herangewachsen, unser ältester Bruder,
Onkel Karl,
bereits Assessor, als wir Jüngsten geboren wurden. In den älteren
Geschwistern hatte unsere zarte Mutter eine gute Hilfe. Zwar heiratete
Mariechen, die älteste, als ich kaum ein Jahr alt war, aber Jettchen
war da und mein Bruder Karl.
Jettchen hatte zu allen Großen und allen Kleinen ein sehr liebevolles
Verständnis und war der Mutter eine große Hilfe bei den Jüngsten.
Wir fühlten, wie sie mit sehr großer Liebe und Sorge sich um
uns mühte, auch wo sie streng war, während Karl uns beiden Jüngsten
bis in unser Alter sehr verwöhnte. Als die Kleinen liebte er uns zärtlich
und beschenkte uns mit Spielsachen, was die Eltern nicht vermochten.
Als Kind hatte Karl eine Freistelle in Schulpforta gehabt. Als Zehnjähriger
bekam er dort einmal bitteres Heimweh und machte sich auf wunderbare Weise
auf, zu Fuß nach Hause zu laufen. Auf dem Wege fing man ihn aber
auf und benachrichtigte unsern Vater, der sehr erzürnt war. Vater
ließ ihn durch seinen Schreiber abholen. Er bekam Schläge und
wurde, ohne seine Mutter begrüßen zu dürfen, wieder zurückgeschickt,
In Schulpforta wurde Karl als Schüler daran gewöhnt, jüngere
zu beaufsichtigen. Dabei wurde er zeitweise etwas jungenhaft und tyrannisch.
Den Werdegang von uns Kindern im einzelnen kann ich nicht beschreiben,
ich war die Jüngste. So kann ich nur von einigen Erlebnissen sagen.
Auch die Jahreszahlen, die ich angebe, sind aus der Erinnerung zusammengestellt
und drum nicht ganz genau. Die 28 Examen, die wir Kinder machten, verliefen
gut und leicht.
Viel Sorge hatte die Mutter um meinen Bruder Franz,
der an Krämpfen litt und die Schule nicht regelmäßig besuchen
konnte. Er erlangte aber später doch durch großen Fleiß
und durch große Willenskraft mit 19 Jahren das Abitur.
Ich selbst kam wegen meiner Zartheit sehr spät in die Schule.
Ich wurde drei Jahre lang von Jettchen unterrichtet, erst zusammen mit
zwei Kindern, dann allein.
Meine erste Erinnerung ist eine Reise zu Rheinbabens mit den Eltern,
wohl zweijährig, nach Fritschendorf bei Krossen an der Oder, wo man
mir jeden Tag ein frisches Kränzchen machte.
Dann kam meines Vaters Erkrankung an der Darmverschlingung. Schon früh,
gleich nach dem Kaffee, lief die Mutter ängstlich mit heißer
Schüssel zu Papa. Als die Großen in der Schule waren, wurde
ich zu meiner großen Freude zu Tante
Dihm gebracht, unsere sehr lieben Nachbarn und treuen Freunde 13 Jahre
lang. Ich wurde nun Tante Dihms Kind. Nachmittags gesellten sich wohl einige
Schwestern dazu. Aber Mutter sah nie nach mir. Das gefiel mir nicht, und
so lief ich, als drüben die Tür mal ging, herüber. In dem
Augenblick trat mir Bruder Karl mit einem fremden Herrn entgegen. Der nahm
mich auf den Arm und ich hört ihn noch: Und
das ist das Jüngste von zwölf Kindern? Dabei streichelte
er mich und wischte sich ein Auge. Mein Bruder aber sagte: Du
mußt ganz still und artig sein. Mama ist bei Papa; der ist krank.
Es war Geheimrat Wilms, der menschenfreundliche Chirurg, den unser junger
Arzt (unser bisheriger war, während der Vater so krank lag, am Schlag
gestorben) hinzugezogen hatte. Es stand wohl sehr schlimm mit meinem Vater.
Unser alter Arzt, Constantin Hofmann, hatte in seiner Sorge dem Patienten
zu viel Quecksilber gegeben, so hörte ich später noch oft erzählen.
Doch Geheimrat Wilms operierte ihn. Lange Zeit hatte kein Mensch mehr mit
mir gelacht, aber eines Sonntags durfte ich nach Haus, Tante Lina Eickenbusch
war da, und am Nachmittage spielten wir Kinder in der Kinderstube tipp.
Da hörte ich ein Klopfen mit einem Stock, wie der Wind springe ich
auf, als mich schon jemand packt und mich auf meiner Mutter Schoß
auf das Sofa setzt. Papa kam mit zwei Stöcken, gestützt von Karl
und meinem Schwager. Es war große, unheimliche Freude. Alles war
still, und nach einer Weile durfte ich ihn erst küssen.
In dieser Zeit war es auch, daß Bismarck meinen Bruder Karl,
der damals Assessor war, dreimal zu sich rief und ihn fragte, ob er eine
Stelle im auswärtigen Dienste, ich glaube in Kairo, annehmen wolle.
Aber Karl hielt es für seine Pflicht, bei seinen Eltern und uns Kindern
zu bleiben. Als er Bismarck zehn oder zwölf Jahre später, 1872,
als Reichstagsmitglied vorgestellt wurde, fragte Bismarck ihn: Sind
Sie jener Assessor, der dreimal aus Rücksicht auf seine Eltern eine
Stelle im auswärtigen Dienste ausschlug? - Ja. - Nun,
einen solchen Sohn habe ich in meinem Leben nicht wieder gefunden.
- Er hat auch fortan alle Beförderungen ausgeschlagen, um den Eltern
zu helfen, auch darum nicht geheiratet.
Ganz wunderschön waren unsere Weihnachtsfeste. Was wurde da alles
geschafft! Schuhe, Strümpfe, Wäsche, alles hatte ein anderes
Aussehen, wenn es vom Christkind kam. Nie fehlte es an schönen Puppen
und Büchern durch die treu sorgenden Geschwister. Ein großer
Waschkorb mit Nürnberger Pfefferkuchen war schon lange vorher unser
Entzücken; und die Brüder ließen es sich nicht nehmen:
Am Nikolaustage kam einer als Nikolaus. Und wir Kleinen hatten auch unsere
Geheimnisse. Von Oktober an wurden kleine Entbehrungen, wie der Zucker
zum Reis und früh zum Nußblättertee und kleine Hilfeleistungen
freundlich bezahlt. Jeder hatte dafür seine Weihnachtssparbüchse,
und in wiederholten Gängen nach dem Weihnachtsmarkte wurde eingekauft,
für jeden etwas: Haarnadeln, Stecknadeln, Bleie, lauter Kleinigkeiten.
Und Arbeiten kaufte uns die Mutter, und sehr vergnügt arbeiteten wir
später hinter Büchern oder Kästen, die auf dem Tische standen.
Wir strickten Seiflappen, säumten Schärpen usw.
Wir Jüngsten legten die Arbeit dem Christkind vors Fenster, und
so oft hatten Bruder Karl und Schwester Jettchen überraschend daran
geholfen. Ein Mal in der Woche durften wir später, als wir größer
waren, auch länger aufbleiben. Dann gab es um 9 Uhr Kaffee und Kuchen
und Schwager Wolff las uns aus Fritz Reuter, Gustav Freytag und anderen
etwas vor.
Ein großes Ereignis, das lange Schatten vorauswarf, war die Abreise
von Onkel Rudolf
nach Amerika. Während Karl, Wilhelm
und Gustav studierten, wurde Rudolf nach wohlbestandenem Abitur Kaufmann,
was ihm sehr schwer fiel. Aber mit Fleiß und Energie und seinem eisernen
Charakter setze er es durch. Er lernte in der Eisengroßhandlung von
Jakob Ravené und Söhne in Berlin. Mit einem Segelschiff fuhr
er nach Amerika. Er fand so viel Anerkennung, daß er dort in dem
großen Überseegeschäft von Hildebrand & Delius in Durango
in Mexiko ohne eigenes Vermögen Teilhaber wurde und später die
Tochter > heiratete. Er ebnete auch den beiden jüngeren Brüdern
Hilmar
und Franz dorthin den Weg, ganz rührend dem Jüngsten.
Diese drei Brüder erwarben ein Vermögen und großes
Ansehen, wie die drei anderen zu Ruhm und Ehre gelangten.
Karl blieb unverheiratet. Er war das rechte, sehr geliebte Familienoberhaupt.
Er blieb am Gericht in Berlin, wurde in den ersten Deutschen Reichstag
gewählt und gehörte als Hauptredner der Konservativen Partei
an. Daneben arbeitete er viel politisch, z. B. im Bund der Landwirte. Er
gab die Goldene Internationale [7]
heraus und war mit Stöcker [8] eng verbunden. Wie dieser war auch
er zur Gründerzeit viel verspottet und angefeindet. Er wurde im Kladderadatsch
abgebildet, sogar an Litfaßsäulen, und meine Mutter stand viel
Angst um ihn aus.
Wilhelm [9] war Lehrer am Grauen Kloster, wo er einst Schüler
war. Da schrieb er ein Buch über Walther von der Vogelweide und anderes
und wurde als Professor nach Greifswald und dann nach Bonn berufen als
Nachfolger von Karl Simrock. Er war Germanist. ((Über ihn schrieben
lesenswerte Nachrufe Edward Schröder im Biographischen
Jahrbuch von Bettelheim Band 16, 1914, Seite 41 und 86, und
J. Franck in der Zeitschrift für deutsche
Philologie Band 43, 1911, Seite 435.))
Gustav, kaum dem Hörsaal entwachsen - Mommsen [10] und Haupt [11]
waren seine Lehrer, später seine treuen Freunde -, wurde mit 22 Jahren
an die Universität Dorpat berufen [12]. 1872 kam er nach Straßburg.
Er arbeitete mit an Mommsens großen Werk Corpus inscriptionum, machte
unter französischem Schutz zwei große Reisen nach Nord-Afrika,
um römische Inschriften zu sammeln, holte sich aber auf der zweiten
Reise den Keim des Todes. Er starb im Alter von 32 Jahren nach langer Krankheit
in Baden-Baden, wo er Heilung suchte. Dies war der härteste Schlag,
den die Eltern erlebten. ((Er hinterließ bei seinem Tode eine Sammlung
von 11 000 römischen Inschriften, die er in Nord-Afrika gesammelt
hatte. Das umfangreiche Werk wurde nach seinem Tode von Mommsen herausgegeben.
Mommsen setzte dabei den Lebenslauf des so früh verstorbenen dem Werk
voran.)) Die drei Brüder, Karl, Wilhelm und Gustav wetteiferten, uns
viel Gelegenheit zur weiteren Ausbildung zu geben. Sie lasen mit uns ältere
Literatur, sorgten für Kunstvorträge, abonnierten für uns
in der Singakademie, führten uns ins Schauspiel- und Opernhaus und
in die Museen. Waren die Brüder auswärts, so lasen wir Schwestern
der Mutter täglich vor, Biographien und anderes. Das
war mir, fügt die Schwester Elisabeth an dieser Stelle
ein, später eine schmerzvoll entbehrte köstliche
Erinnerung. Mein lieber Mann hatte gar zu viel abends zu tun.
Nun die sechs Schwestern. Marie, die älteste, heiratete den Witwer
und Vater von drei Kindern, den Rendanten, später Direktor Wolff.
Ein sehr ehrenwerter Mann. ((Christian Wolff, 1821 - 1881, Büro-Direktor
bei der Stadtverwaltung von Berlin. Seine Kinder aus erster Ehe sind Anna
, Fritz
und Luise;
Maries Kinder sind Franz
und Josephine.
Luise verbrachte ihren Lebensabend in der Familie Eduard Caspar in Magdeburg,
wo sie 1930 starb.)) Sie wohnte in einem Pfarrhause mit sehr großem
Garten und sehr altem frühen Friedhof. Wir waren so sehr gern dort
zusammen mit unseren Nichten Anna, Luise und Phina. Jettchen war fortan
unsere treue Älteste. Sie war Klavierlehrerin und plagte sich sehr,
gab 30 bis 50 Stunden wöchentlich und mit ihrem Verdienst machte sie
uns Jüngeren viel Freude. Josephine
war wohl die Begabteste. Sie und Jettchen waren von allen besonders geliebt.
Aber ihr leidenschaftlicher Charakter war für die Familie dennoch
nicht immer leicht zu ertragen. Als Erzieherin erwarb sie sich große
Anerkennung und allen Schülerinnen war sie bis an ihr Lebensende treu
verbunden. Elisabeth ergänzt: Kam sie nach
Haus, so ging ihr leidenschaftlich uns liebendes Herz ganz für uns
durch. Mit ihrer sehr großen Geschicklichkeit und Eigenheit stopfte
sie rührend und selbstlos Schäden, die wir bis zu ihrem Kommen
verborgen gehalten hatten, sogar nachts. Sie brachte uns entzückende
Handarbeiten mit und schrieb auch uns und unseren Freundinnen so niedliche
Theateraufführungen. Oft wurden wir von ihren Prinzipalinnen für
die langen Sommerferien eingeladen, ich sogar einmal zur Erholung für
ein halbes Jahr voll großer Güte und hatte herrliche Monate
in dem vornehmen Hause von Kommerzienrat Wopsky in Wüste Waltersdorf
bei Charlottenbrunn in Schlesien. Groß war Josephine auch darin,
daß sie ihren unglücklich verwachsenen Körper mit sehr
fröhlichem Humor ertrug. Sie hatte ein sehr feines Gesichtchen und
sah Mama sehr ähnlich. Sie starb in Gera als Leiterin einer
höheren Töchterschule. Auch die darauf folgende Schwester Auguste
war verwachsen. Unsere Mutter sah es als Folge eines sehr schweren Stickhustens
an. Auguste wurde, als sie die Schule verlassen hatte, die denkbar treueste
Stütze der Mutter im Hause. Ihr fehlte die fröhliche, liebenswürdige
Natur von Josephine. Sie litt sehr viel an Kopfweh, was sie bei der Arbeit
nie störte, aber sie war infolgedessen sehr still und all die lustigen
Elemente bedrückten sie. Vergnügen hatte sie fast nie und rührend
arbeitete sie neidlos an dem Ballstaat für uns beiden Jüngsten.
Erst spät erkannten wir alle ihre Seelentiefe und ihre mannigfachen
Gaben, die sie so gern in unseren Dienst stellte, auch für die vielen
Nichten und Neffen, die sie aber nicht gebührend schätzten, weil
sie auch scharf und streng war. ((Sie starb, fast ertaubt, 1923 in einem
Damenstift in Charlottenburg.)) Lisbeth machte mit mir das Lehrerinnen-Examen
und heiratete später den Konsistorialrat Caspar. Ich als Jüngste
heiratete den Dr.
W. v. Oettingen, anderthalb Jahre nach meines Vaters Tode. Die Geschwister
machten mit die Hochzeit, an der ich die Eltern besonders bitter entbehrte,
sehr schön. Die Trauung war im Hause, an derselben Stelle, an der
meines Vaters Sarg gestanden hatte. Beide Bilder hingen über dem Trautisch.
Hier heißt es am Rande von der Schwester Elisabeth: Die
Zeilen sind so voll Liebe und Reichhaltigkeit geschrieben, daß ich
nur äußere, oberflächliche Bilder zu geben weiß,
in großer Müdigkeit bei 79 Jahren. Nach dem 50-jährigen
Jubiläum, etwa 1869, nahm mein Vater seinen Abschied und begann ein
beschauliches Leben. Unser Vater las nun viel, gab meiner Schwester Lisbeth
und mir kunsthistorischen Unterricht (Architektur), aber das war nicht
lange, da wir in der Schule zu viel zu tun hatten. Er schrieb Briefe und
handwerkerte. Er machte sehr hübsche Laubsägearbeiten und pappte
hübsche Kästen. Auch zog er allen unseren Freundinnen Myrtenstöckchen
und hatte einen Kanarienvogel. Das Jahr 1881 störte unser Glück.
Im März erkrankte mein Vater. Die Ärzte fürchteten zuerst
Gehirnerweichung, dann Lungenentzündung, schließlich wußten
sie sich garnicht zu helfen. Es war sehr hart. Meine Mutter, selbst schon
seit etlichen Jahren sehr hüftleidend - sie konnte nur mit zwei Stöcken
gehen -, wollte sich nicht von der Pflege ausschließen lassen. Mein
Bruder Karl und ein Pfleger standen ihr bei. Uns jüngere Töchter
aber ließ sie nicht herein, damit wir den traurigen Geisteszustand
unseres Vaters nicht sehen sollten. Im April erkrankte mein Schwager Wolff
an der galoppierenden Schwindsucht. Am 22. Juni 1881 starb er. Jetzt wurde
unseres alten lieben Doktors Furcht, unsere Mutter würde zusammenbrechen,
wahr. Bald nach dem Begräbnis legte sie sich. Vater gesundete langsam,
jedoch ohne daß seine volle Geistesfrische zurückkehrte. Unsere
gute Mutter aber litt neun Monate lang ganz unsagbar. Bewegen konnte sie
sich kaum, jede Berührung vergrößerte ihre Schmerzen. Tag
und Nacht mußten wir zwei barmherzige Schwestern haben. Auch war
eine von uns Töchtern immer bei ihr, und da Jettchen, Lisbeth und
ich unsere Berufe hatten, so hatte jedes seine bestimmten Stunden. Wie
widmete sich dann die liebe Mutter trotz aller Schmerzen mit ihrer ganzen
Seele dem Einzelnen. Ein jeder hatte in diesen Stunden für das ganze
Leben viel von ihre. Die fernen Kinder, Wilhelm und Rudolf, besuchten sie
oft, auch wohl mit einem Enkelchen. Jeder tat, was er konnte, um sie zu
erfreuen, aber helfen konnten wir ihr nicht. Die letzten drei Wochen war
sie meist unklar und am 2. Februar 1882 früh gegen 5 Uhr atmete sie
langsam aus. Probst Herzog stand ihr treu bei, mit größter Schonung
gegen uns Kinder. Er erteilte ihr auch die letzte Ölung und forderte
uns alle liebevoll auf, zugegen zu sein. Er trug schwer, aber milde an
ihrer Verbindung mit einem evangelischen Manne und der evangelischen Erziehung
der fünfzehn Kinder, gab aber die Schuld der früheren Geistlichkeit.
Es sei grausam, sagte er, jetzt noch etwas dagegen tun zu wollen. Er stand
Mama als ihr Beichtvater sehr nahe und lenkte jede kirchliche Not ab. Es
wurde ein herzliches Verhältnis. Zuletzt auch mit den Brüdern.
Er gab ihr das Grabgeleit zum evangelischen Friedhof; nur die Chorknaben
blieben an der Pforte zurück. Er hielt die herrliche Grabrede und
dankte uns, daß wir den Segen der Katholischen Kirche geben ließen.
Viele, viele Freunde begleiteten sie auf dem letzten Wege. Auch die evangelischen
Prediger Brückner, Noel und Disselhoff, die sie von Herzen verehrten,
gingen mit. Als Probst Herzog kurz darauf als Fürstbischof nach Breslau
berufen wurde, hat er, liebevoll an unsere Mutter denkend, noch einmal
an Bruder Karl geschrieben, der doch echt evangelisch mit Stöcker
befreundet war. Für uns kam ein großes Entbehren, ein schweres
Jahr, auch für die Fernen, die ihre Sonntagsbriefe entbehren mußten.
So lange sie gesund war, ging sie jeden Sonntag um 7 Uhr früh zur
stillen Messe, danach setzte sie sich in Vaters Zimmer und schrieb bis
12 oder halb ein Uhr an jedes ferne Kind. In den letzten Monaten ihrer
Krankheit hatte sie den fernen Kindern schreiben lassen. Unser armer Vater
fühlte den Schmerz nicht mehr in seiner ganzen Tiefe, und das war
gut. Denn in gesunden Zeiten war er kreuzunglücklich, wenn die Mutter
einmal ein Stündchen ausging, was sehr selten vorkam. Als wir beide
nach dem Tode unserer lieben Mutter in sein Zimmer gingen, das sagte er
alsbald Nun bist du mein liebes Mütterchen!
und seine Liebe tat mir hinfort unendlich wohl. Er starb am 20. November
1885, 86 Jahre alt. Eines Sonntags nachmittags, als wir alle zusammen bei
ihm waren, erlitt er plötzlich einen Blutsturz. Es war wohl eine Ader
in der Lunge geplatzt. Letzteres hatte er oft in kleinem Maße gehabt.
Still und mit herzlicher Teilnahme alter Freunde brachten wir ihn zur letzten
Ruhe. Die ist die Spanne Zeit, da die Familie wie unser ganzes Volk sich
durch Fleiß und Tüchtigkeit emporarbeitete. Es war eine stolze,
frohe Zeit. Dann erlebten wir das Elend in allen Teilen. Davon erzählen
die Kinder wohl besser, und sie müssen von vorn wieder anfangen zu
arbeiten. Gott segne sie und lasse es gelingen.
Erinnerungen an meine Kinder- und Jugendjahre.
Von Elisabeth Caspar, geb. Wilmanns
Kleine Erinnerungen, die ich als bald 80 Jährige in Tante Linas lieben Bericht in Kürze einfügen könnte, habe ich hineingeschrieben, aber auf Eure wiederholte Bitte habe ich mich mehr in die Vergangenheit vertieft und will, liebste Kinder, in großer Liebe noch Weniges Euch erzählen, obwohl es sehr Alltägliches ist und bei meiner großen Müdigkeit in meinem hohen Alter auch unzulänglich bleiben wird. Ich erinnere mich als älteste Erinnerung, daß ich mit Tante Lina oft im Wohnzimmer auf der Erde saß und wir uns den Ball zukullerten; daß Mama dabei in ihrem Sessel saß, nähte und mit ihrer melodischen Stimme Liedchen sang und auf unsere Bitten hin auch die Arbeit mal hinlegte, uns auf den Schoß nahm und uns Geschichten erzählte; daß Onkel Karl, unser ältester Bruder, damals schon Assessor, uns sehr verhätschelte und oft mit uns spielte. Tante Jettchen, unsere älteste Schwester daheim, nahm uns zwei Kinder sehr oft mit zu ihren bereits langjährigen Freundinnen, was wir sehr gern hatten. Besonders gern waren wir bei der unserer Familie geschwisterlich nahe stehenden, unter uns wohnenden Familie Dihm, die wunderbar schöne Spielsachen hatten. Der Vater, ein Eisenbahn-Direktor, lebte nicht mehr. Tante Dihm liebten wir zärtlichst, ebenso die heranwachsende Tochter und den Sohn. Mehr als 15 Jahre lebten wir zusammen, und bald waren sie oben bei uns oder wir unten bei ihnen, und immer kehrten wir voll Entzücken in die eigentliche Heimat zurück mit so allerliebst eigenhändig gemalten Ankleidepuppen und ihren schönen Wohnungseinrichtungen. herrlich war es auch, wenn die älteren Schwestern Josephine und Auguste mit Schularbeiten fertig waren und mit uns für unsere Puppenkinder nähten, oder wir mit Mama und Tante Dihm in den Garten gingen und wir ihnen vorlesen durften, und sie uns lehrten, unsere Beete zu pflegen. Sonntags traten schon vormittags die sechs Söhne des Landrats von Rheinbaben, der mit unseren Eltern von ihrer Jugend her sehr nah befreundet war, aus der Kadettenanstalt an. Das war für die noch jüngeren Brüder herrlich. Sie fochten und kämpften in ihrem Schlafzimmer eine Treppe höher mit Jubel. Zum Abend um 7 Uhr kamen Dihms und Anna Wolff, unsere Nichte, dazu und nach dem sehr schlichten Abendessen wurde der große Eßtisch hinausgeschleppt und die einstudierten Tänze wurden geübt, auch herrliche Gesellschaftsspiele gemacht. Wir durften bis 8 Uhr neben Mama sitzen, während die älteren Brüder sich mit den Eltern unterhielten. Zuweilen kam abends noch ein sehr freundlicher, alter Onkel der Rheinbabenschen Söhne, ein Kommandierender General, und brachte uns herrliche Bonbons ans Bett und kommandierte seine Neffen um 1/2 10 Uhr spaßig zurück in die Kadetten-Anstalt. Wir hatten eine sehr schöne reiche Kindheit durch treustes Mit-uns-leben der Eltern, der sechs Brüder und der vier älteren Schwestern. Unsern so sehr lieben, guten Vater sahen wir bei seiner übergroßen Arbeitslast sehr wenig, konnten uns auch bei seiner argen Taubheit wenig mit ihm verständigen, aber er sah uns immer sehr liebevoll, so freundlich an, sang Mama und uns zuweilen mal Jugendlieder fröhlich vor, zeigte und belehrte uns aus Lübkes [13] Kunstgeschichte und half uns, als er pensioniert war, meine vielen, vielen Blumen, über 30 Töpfchen in seinem Zimmer, pflegen. Bis zu der Zeit war er immer um 4 Uhr aufgestanden, wärmte sich selbst auf der Berzeliuslampe [14] eine Tasse Kaffee. Um 7 Uhr mußten sein Schreiber und der Chausseeaufseher zum Bericht antreten. Wir Kinder mußten um 6, im Sommer 1/2 6 Uhr mit dem Strickzeug am Kaffeetisch erscheinen und ihm guten Morgen wünschen. Das war uns oft hart, aber die Brüder mußten sehr früh zum Schwimmen und um 7 Uhr bei der Arbeit sein. Tiefen Eindruck machte uns Bruder Rudolfs Abreise nach Mexiko. Wir sahen Mama und die großen Schwestern weinen und auch Papa sah sehr ernst aus. Wir glaubten gar nicht mehr lachen zu dürfen. Mama hatte große Sorge und Bangen, bis endlich aus Durango seine gute Ankunft von Onkel Delius gemeldet wurde. Inzwischen war unser lieber Vater sehr schwer an Darmverschlingung erkrankt; davon erzählte Schwester Lina in ihrem Bericht. Damals spielten wir Jüngsten noch mit den Kindern unseres Hauswirts, des Professor Wolff, auf dem Hofe und im Garten Ball, Versteck und Greifen. Oft kletterten wir über den Gartenzaun in den anstoßenden großen Garten, Lindenstraße, zu Kammergerichtsrat Flittner, Tante Jettchens Freundinnen, wo wir sehr gern mit Elsbeth Paulus (Enkeltochter) spielten und viel, viel schönes Obst pflücken und essen durften, bis wir endlich auf demselben kürzesten Wege nach Hause geschickt wurden. In der schönen Kinderzeit hatten wir den Schmerz, daß unser Wirt starb, Käthe Wolffs Vater, und das Haus an einen Tischler verkauft wurde. ((Die Familie wohnte in Berlin in der südlichen Friedrichstadt in der Puttkammerstraße, später zog sie in die Alte Jakob-Straße.)) Auf der Hälfte des Hofes und des Gartens wurde eine Werkstatt für 80 bis 100 Tischler gebaut und alle Ruhe und Ungeniertheit des Hauses ging verloren, aber der Wirt war doch sehr freundlich. Wir weihten die Werkstatt mit großem Puppenfest und großer Kocherei ein. Dihms und die Brüder waren unsere Gäste und drei sehr liebe alte Fräuleins, die auch im Hause wohnten. Als nun hernach die Arbeit dort begann, war studenlang betäubender Lärm auf dem Hofe durch das Abladen der Bretter etc., worunter unsere so sehr liebe Mutter schwer litt. Keinen Baum, keine Blume konnte sie sehen, nur das große neue Haus und die Arbeiter. Dihms zogen aus. Alles war anders geworden. Eines Abends brannten die ganze Werkstatt und viele hundert Bretter auf dem Hofe ab infolge überheizten Ofens. Es war eine große Aufregung und Gefahr, aber, gottlob, kein Menschenleben ging verloren. Bruder Hilmar folgte dem Bruder Rudolf nach Mexiko. Ich kam in den Konfirmationsunterricht zu Herrn Pastor Disselhoff ((den die Verfasserin auch später im Leben gern und in Verehrung nannte)). Wolffs (Tante Marie) zogen in die Alexandrinenstraße, bald uns gegenüber in die Alte-Jakob-Straße. Wir waren nun viel mit ihnen, unsern Nichten und Neffen zusammen, bis die Älteren und auch Schwester Josephine nach ihrem gut bestandenen Examen zu meinem Kummer aus dem Hause kamen. Schwester Marie mühte sich viel mit uns, lehrte mich für die Puppen feinschneidern, Ärmel ausbessern, gab mir später Gesangsstunde, auch hatten wir sonst viel Freude dort. Fritz Süßmann, ein Kinderfreund von Bruder Franz, war täglich dort ((bei Wolffs)), bis er die Universität Heidelberg bezog. Wenn ich irgend Zeit hatte, nähte ich für meine Puppen, Judenfamilie Benjamin, Rebekka und den kleinen Benjamin. Ich lernte dabei viel, was mir später bei meinen geliebten Kindern sehr zustatten kam. Bruder Franz erlernte die Landwirtschaft, erkrankte schwer, kam in Kaltwasserheilanstalt und gesundete. Wir durften ihn alle Tage besuchen - so sehr liebend. Die Schule jedoch stellte immer mehr Anforderungen, die Konfirmandenstunde, dazu wurden wir sehr viel zu Kindergesellschaften eingeladen, bei den verheirateten Freundinnen von Schwester Jettchen und ihren Klavierschülerinnen. Gaben selbst welche, in denen Tante Jettchen ganz köstlich mit uns spielte und Theater vorführte. Mitschülerinnen durften wir nie besuchen, weil Mama und Tante Jettchen das Haus und seinen Einfluß nicht kannten, wir auch ohnehin soviel Verkehr hatten. Am schönsten war es allemal bei Prof. Adlers (Geheimer Oberbaurat), Prof. histor. Trendelenburg [15]. Allemal in der Bewirtung äußerst einfach, geröstete Zwiebacke und hernach Griesflammerie. Im Sommer bestellte Bruder Karl - Goldonkel von unseren Freundinnen genannt - den großen Kremser zu herrlich lustiger Landpartie. Krieg 1870 brach aus - große Aufregung. Franz drang mitzudürfen, Fritz Wolff als kaum 16 Jähriger. Franz bekam in Frankreich Typhus, lag lange im Lazarett, bis es gelang, ihn in die Heimat zu bekommen, wo er noch viele Wochen bei uns lag. Er trat dann auch wie einst seine Brüder bei Ravené ins Kontor ein, wurde früh belobigt wie diese und folgte Rudolf und Hilmar nach Mexiko, wo Rudolf, der Tante Ottilie geheiratet hatte, sich auf das Innigste seiner annahm, als er lange Zeit stellenlos und sehr unglücklich war. Der Krieg war noch vor seinem Fortgehen beendet mit herrlichsten Siegen; der Einzug der Truppen war bezaubernd schön, überwältigend. Wir hatten mehrere Tribünenplätze und Bruder Karl hatte für die Eltern und uns Jüngste ein Fenster Unter den Linden gemietet. Tags darauf waren die sieben Rheinbaben-Söhne und ihr alter Onkel bei uns zu Mittag. Alle avanciert und Eiserne Kreuze I. Klasse. Ich konfirmiert und von Bruder Gustav in Pension zu den Cousinen Jettchen und Anna Wilmanns gebracht ((in Halle in Westfalen)). Gustav, der von kurzer Lehrtätigkeit an die Universität Dorpat berufen war, kriegte Ruf an die neu gegründete Universität Straßburg zu unserer großen Freude als ordentlicher Professor. Bruder Karl in den ersten Reichstag und Landtag. Herzliche Freundschaft mit Stöcker. Er gab die Goldene Internationale heraus, arbeitete wüst, war wiederholt bei Moltke, Bismarck eingeladen worden. Schwester Jettchen lungenkrank, zweimal ein Dreivierteljahr im Taunus bei Prof. Dettwiler, gesundete und zog zu Onkel Wilhelm ((ihrem Bruder, dem Germanisten)). Lina und ich bereiteten uns zum Lehrerinnen-Examen vor. Bruder Karl sorgte für Freuden, räumte seine drei Zimmer aus und sein Büro, die neben unserer Wohnung auf demselben Flur lagen, gab uns zweimal ganz wunderschöne Tanzgesellschaft (18 Paare), Armleuchter, Speisegeschirr usw. hatte er im Geschäft geliehen, auf daß die Eltern keine Unruhe hatten. Es wurden Tischchen gestellt und Büffet gegeben. Donnerndes Hoch auf den Goldonkel. Wir, Tante Lina und ich, hatten auch herrliche Privatbälle bei Prof. Mommsen, Schweiggers [16] , Generalarzt Mehlhausen [17] (Charit/e) in märchenhaft schön dekorierten Räumen, auch bei unserm Onkel Präsident Pape [18] im Saal des Potsdamer Bahnhofs. Gustchen blieb bei Mütterchen, so treu und lieb, konnte an dergleichen Freuden nicht teilnehmen. Sie kam statt dessen öfter mal ins Theater. Ach, und Jettchen begleitete uns trotz ihrer so sehr zunehmenden Schlaflosigkeit oft in schwesterlicher Treue und Liebe mit. Ihr Leben war mächtig angestrengt. Zeitweise gab sie 40 Klavierstunden in der Woche, teilte alle Sorgen mit unserm lieben Mütterchen und den Brüdern in vielen Briefen und war für alle sehr hingebend da. Wir hatten früh morgens 3 - 5 Jahre hindurch um 1/2 7 - 1/2 8 Uhr Stunde, weil sie tagsüber andere Schülerinnen hatte. Sie war sehr streng in ihrer ganzen Miterziehung, auch in unserm Staubwischen und uns reine waschen müssen, aber es war nicht möglich, in allem ihre sehr große Liebe zu uns nicht zu spüren. Unser Mütterchen saß meist im Nebenzimmer, wenn wir nachmittags unsere Stunden üben mußten, in der anderen Zeit gab Jettchen Stunde, zuweilen spielten die Brüder oben in ihrem Zimmer Geige, Cello oder sangen mit ihrer herrlichen Stimme. Mama überwachte uns alle rührend aufmerksam, hörte mit feinem Gehör die Fehler und rief uns zu, die Takte mehrmals zu wiederholen. Das war uns oft zu tränen lästig. Wir hatten drei Pianinos und Geige und Cello. Unser lieber Vater entbehrte schmerzlichst, keine Musik mehr hören zu können, auch mit seinem Hörrohr nicht. Unser Mütterchen wurde nach den Kriegsjahren sehr hüftleidend. Ärzte wußten nicht zu raten, und sie konnte sich nimmer entschließen, von Papa, der nun pensioniert war, fortzugehen. Er glaubte, ahnte nicht recht, wie sie litt. War sie mal eine halbe Stunde fort, saß er mit der Uhr in der Hand und zählte die Minuten, bis sie kam, machte ihr ein Verschen in sehnendster Liebe. Onkel Gustav wurde der sehr ehrenvolle Auftrag, als erster Archäologe nach Algier zu gehen. Das war für Mama große Aufregung. Mommsen war viel bei ihr. Gustav kehrte sehr angestrengt mit großen Resultaten heim, wurde zweimal zum Diner zum Kaiser befohlen, allein mit Moltke und Bismarck zusammen. Nach einem Jahr wurde er nochmal vom Staat nach Tunis geschickt unter französischer Bedeckung. Er kehrte nach 5 Monaten als Greis infolge der seelisch und körperlich ungeheuren Strapazen zurück nach Straßburg, ließ sich zu seinen Vorlesungen in die Universität tragen. Mommsen viel dort, dem er geholfen hatte, Inschriften zu erforschen. Bald mußte er in Baden Heilung suchen, wurde dort immer kränker. Jettchen gab ihre Stunden auf und pflegte ihn - nicht transportfähig -- die letzten zwei Monate im Hotel. Die berühmtesten Ärzte aus Straßburg und Mommsen mehrmals auf Kosten der Universität bei ihm. Gustav arbeitete und weinte oft wie ein Kind über seine unvollendete Arbeit in qualvollen Schmerzen. Karl und Wilhelm und Rudolf besuchten ihn mal und am 6. März 1878 starb er in klarstem Bewußtsein seines Todes. Schwager Wolff brachte uns schonend abends die von Mama nie überwundene Schmerzensnachricht. Schwager Wolff bekam sehr bald die galoppierende Schwindsucht, Papa erkrankte als 79 Jähriger an schwerer Lungenentzündung. Mama ließ sich nicht nehmen, Tag und Nacht, selbst schwer leidend, an seinem Bett zu sein, wurde von Onkel Karl und Papas Krankenpfleger hin und her getragen. Wolff starb. Papa gesundete, aber war geistig recht schwach. Mama litt unaussprechlich, mußte liegen in Bruder Karls stillem Hinterzimmer. Die Brüder baten Prof. Langenbeck, mit Prof. Bergmann zu kommen, sie berieten jede Woche mit unserm alten Doktor und waren bei qualvollen Leiden sehr teilnehmend, aber hilflos. Jettchen und Auguste pflegten sie zusammen mit zwei katholischen Schwestern. Der Probst kam viel zu ihr, war auch sehr oft mit Karl verständnisvoll mit großer Liebe zu Mama zusammen. Sie wurde am 2. Februar 1882 früh um 5 Uhr sanft erlöst. Das Leben mußte weiter gelebt werden ohne unsere Mutter. Karl sorgte aufs Liebendste für Papa, namentlich früh und abend und für sorglosen, äußeren Zuschnitt des Haushalts. Jettchen gab wieder einige Stunden, war jedoch mit den Nerven nach ihrem so anstrengenden Leben sehr herunter, aber immer voll Liebe und Teilnahme eintretend für ihre Geschwister. Auguste sorgte selbstlos für alle in der Küche und mit der Nadel und forderte mit rührendem Interesse uns von der Schule zu berichten auf. Wir, Lina und ich, unterrichteten. Im Kindergottesdienst lernte ich Else Caspar kennen und lieben, durch sie Therese Hufnagel und bei ((Pastor)) Kuhlo Hermine Meyer. Eines Sonntags Nachmittags nach drei gingen Lina und ich aus. hörten plötzlich viele Kirchenglocken Läuten, sehen Menschenmenge stürmen, Männer sich schluchzend in die Arme fallen, die Kirchentüren werden geöffnet, immer stärkeres Geläut - Attentat auf unseren so teuren allgemein heißgeliebten greisen Kaiser. Das Volk war grenzenlos empört und aufgeregt. Alles strömte in die Kirchen. Nobiling [20] gefaßt. Mit rasender Geschwindigkeit jagen die Kutscher auf hohen Polizeiwagen, auf daß das Volk den Attentäter nicht lynchte, durch die Kleine Mauerstraße. Der Kopf des Kutschers wurde bei der Einfahrt von dem niedrigen Dach derselben abgerissen. Tage und Nächte standen Hunderttausende lautlos, auf immer neu gegebene Bulletins wartend, die Straßen waren tiefernst. Lina und ich liefen in zwei Nächten auch vors Schloß. Ach noch zuckt und krampft das Herz bei der Erinnerung und dem Schmerz zusammen. Viel mit Else Caspar nach der Schule zusammen. Von meiner Klasse sah ich sie viel in der Speisekammer in der Markgrafenstraße 44. ((Sie war später verheiratet mit dem Superintendenten Wilhelm Kritzinger)). Ich sah ganz flüchtig mal ihren Bruder Wilhelm. Er besuchte mich bald, dann öfter, holte Beiträge zur Erhaltung der christlichen Volksschule, trafen uns, mir unerwartet, vor und nach dem Gottesdienst von Dryander. Einladung zum Festabend des Christlichen Vereins junger Männer. Jettchen fragte mich allerlei nach Dr. Caspar. Sie dachte wohl ernster als ich je darüber. Sie und Hermine Meyer begleiteten mich zu dem Festabend, und zwei Tage hernach kam die große, beseligende, alle so sehr erfreuende Frage. Da laßt mich - ohne ihn jetzt voll Heimweh nach diesem großen edlen Herzen todmüde in tiefem tiefem Herzleid - nicht weiter schreiben, nur tief danken in der Stille, danken für ihn und Euch, seine und meine so geliebten Kinder. Ich muß bitten, schreibt Ihr fort, je nach Wunsch. Gott segne und schütze Euch, erwecke und stärke in Euch Glauben an den Heiland, der in seinem Herzen wohnte, und seid Ihm getreu bis zum Tode! Eure sehr alte müde Mutter!
Anmerkungen.